Hier ein Ausschnitt aus dem lesenswerten Artikel von Prof. Dr. Dietrich Murswiek (Universität Freiburg), erschienen in der Süddeutschen Zeitung am Freitag, dem 17.4.2009:
"Vor einem Jahr gaben die Bundestagsabgeordneten dem Vertrag von Lissabon ihre Zustimmung, aber die Tragweite ihrer Entscheidung haben sie gar nicht sehen können. Über eine Wirkung des Vertrags, die geradezu revolutionäre Bedeutung hat, waren sie von der Bundesregierung nicht informiert worden. Vermutlich ist es ihr selbst nicht aufgefallen, was der von ihr ausgehandelte Vertrag verfassungsrechtlich bewirkt: Er macht den EU-Vertrag zur europäischen Oberverfassung und den Europäischen Gerichtshof zum Oberverfassungsgericht für alle EU-Staaten. Und er beraubt das Bundesverfassungsgericht seiner Kompetenz, über Fragen des deutschen Verfassungsrechts letztverbindlich zu entscheiden.
Schon jetzt ist zwar das EU-Recht teilweise dem Recht der Mitgliedstaaten übergeordnet, schon jetzt setzt sich der Gerichtshof im Konfliktfall gegen die nationalen Gerichte durch. Dies gilt aber fast ausschließlich für wirtschaftliche Angelegenheiten.
Das bedeutet, dass künftig jedes Amtsgericht ein deutsches Gesetz unangewendet lassen kann und muss, wenn es meint, es sei mit einem der EU-Grundwerte unvereinbar.
Nun sind die Grundwerte des EU-Vertrags so schöne Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde. Was also könnte schlecht daran sein, dass künftig der EU-Gerichtshof darüber wacht? Das Problem ist: Die EU und besonders ihr Gerichtshof erhalten unter Berufung auf diese Werte die Möglichkeit zu massiven Interventionen in innere Angelegenheiten der Mitgliedstaaten.
So vertritt der Europäische Gerichtshof - im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht - die Ansicht, die Menschenwürde sei nicht absolut unantastbar, sondern müsse mit anderen Gütern oder Werten abgewogen werden.
Von solchen Gefahren war in der parlamentarischen Behandlung des Vertrags nicht die Rede. Jetzt aber zeigt sich: Der Vertrag von Lissabon stuft die nationalen Verfassungen auf den Status herab, den in Deutschland die Landesverfassungen im Verhältnis zum Grundgesetz haben. Das Bundesverfassungsgericht wird auch auf den Gebieten entmachtet, die rein deutsche Angelegenheiten betreffen.
Die Bundesregierung hat jetzt noch die Möglichkeit, durch einen völkerrechtlichen Vorbehalt den Eintritt dieser Wirkung zu verhindern. Wenn sie es unterlässt, könnte das 60. Jubiläum des Grundgesetzes, das wir in diesem Jahr feiern, das letzte gewesen sein."
Anmerkung: "Die Menschenwürde sei nicht absolut unantastbar" ist ein netter Euphemismus für die kaltblütige Wiedereinführung der Todesstrafe und der Erlaubnis zu Todesschüssen bei der Niederschlagung von Aufständen. Sollte die EU einmal die Standards erreichen, die das Grundgesetz bezüglich der Menschenwürde und staatlicher Gewaltenteilung hat, kann man über einen Vorrang der EU-Verfassung über das Grundgesetz diskutieren. Diese Standards erfüllt der EU-Vertrag nicht im geringsten. Wenn der Lissabonvertrag in Kraft tritt, unterwerfen sich alle EU-Mitgliedsstaaten einer Exekutivdiktatur der EU-Kommission, die nahezu kaum vom machtlosen EU-Parlament kontrolliert werden kann. Vielleicht liegt der Hauptgrund für das Desinteresse an den Europawahlen darin, daß die Wahl für das EU-Parlament im Sommer dieses Jahres kaum Folgen hat, denn das Europäische Parlament verdient seinen Namen nicht. Die wahre Gesetzgebungsbefugnis liegt bei der EU-Kommission, und diese wird nicht vom Bürger gewählt. Hinzu kommt, daß in diesem Reformvertrag Konzern- und Kapitalinteressen durch die Festschreibung des kalten Turbokapitalismus eine menschenfeindliche Wirtschaftsform in den Verfassungsrang erhebt (das Grundgesetz ließ diese Frage bewußt offen für demokratische Entscheidungsprozesse), die schon längst gescheitert ist.
Und abschließend: warum dürfen die Völker der EU über dieses Dokument mit Verfassungsrang nicht abstimmen? Eine Verfassung ist ein Vertrag zwischen den Bürgern über die Grundlagen des Staatswesens und des Zusammenlebens, doch die Betroffenen haben kein Mitspracherecht. Der strenge Gestank der Diktatur breitet sich immer weiter aus: in diesem Land, in der EU und im Westen insgesamt.
Übrigens erschien der SZ-Artikel von Prof. Dr. Murswiek am selben Tag, an dem in Deutschland eine Internetzensur eingeführt wurde. Im deutschen Grundgesetz steht hierzu eindeutig:
Artikel 5 GrundgesetzAbsatz 1: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.
Eine Zensur findet nicht statt.Frau von der Leyen greift dem Lissabon-Vertrag offenbar bereits vor und ignoriert schon jetzt das Grundgesetz. Karlsruhe, übernehmen Sie!
Links hierzu: