Freitag, 10. Juli 2009

Günter Grass: Mündig sein, Mund aufmachen – wir sind das Volk!

Rede (leicht gekürzt), gehalten an der Paul-Natorp-Oberschule in Berlin vor Abiturienten - lesenswert für ALLE Bürger dieses Landes mit der Aufforderung, endlich aktiv zu werden für den Schutz der Demokratie:

Meine kurze und, so hoffe ich, bündige Rede steht unter der Überschrift Mündig sein. Es bedeutet: verantwortlich werden und also den Mund aufmachen. Als ich im Alter der hier versammelten Schülerinnen und Schüler war, herrschte Krieg. Und aufgewachsen unter der Zucht und ideologischen Prägung des Nationalsozialismus, standen wir unter Befehlsgewalt und lernten einen blinden Gehorsam, der für viele meiner Generation in den Tod führte.
Erst in der Nachkriegszeit, mittlerweile achtzehn, neunzehn Jahre alt, lernte ich mühsam zu unterscheiden, mich selbst zu befragen und laut vernehmlich zu widersprechen. Ich wurde im Nachholverfahren mündig und fand während einer Zeit politischer Restauration, also in den fünfziger und sechziger Jahren der Adenauer-Ära Gelegenheit genug, mein »Ja« und mein »Nein« zu erproben, widerständig zu sein.
Sie hingegen wachsen in einer Zeit auf, in der die Floskel vom »mündigen Bürger« zum Allgemeinplatz geworden ist. In jeder Sonntagsrede wird er umworben. Da ich aber das Vergnügen habe, an einem Wochentag zu Ihnen zu sprechen, soll geprüft werden, ob es ihn im ausreichenden Maße gibt, den Bürger, der bereit ist, den Mund aufzumachen und zu widersprechen, wenn die genauso oft berufene »demokratische Grundordnung« aus den Fugen gerät.
Politiker beglückwünschen sich gegenseitig, als hätten sie vor zwanzig Jahren das gesamtdeutsche Machwerk, die Mauer, zu Fall gebracht. Zugleich feiern wir sechzig Jahre Grundgesetz. Und gleichfalls tun Schönredner so, als habe dieses Fundament unserer Demokratie nicht im Verlauf der Jahre Schaden genommen. So wurde ein Kronjuwel, der Asylartikel, verunstaltet. Seitdem ist das Abschieben von Flüchtlingen, das heißt von Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, alltäglich geworden. Familien werden auseinandergerissen. Als neudeutsches Wort macht uns die Prägung »Abschiebehaft« Schande.
Ein anderes Beispiel: Als vor annähernd zwanzig Jahren die deutsche Einheit aufs Vertragspapier kam, wurde der Schlußartikel des Grundgesetzes, der wohlweislich vorgeschrieben hatte, im Fall einer deutschen Einheit dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorzulegen, mißachtet, die Einheit wurde ruckzuck über den Anschlußartikel 23 vollzogen, der Westen nahm den Osten in Besitz, mit Folgen bis heute: die Einheit steht nur auf dem Papier.
Da ich sicher bin, daß in der Paul-Natorp-Oberschule insbesondere in diesem Jahr die Überprüfung unserer Verfassung mit der Verfassungswirklichkeit zum Unterricht gehörte, ist Ihnen allen sicher in Erinnerung, daß, laut Verfassung, vor dem Recht jeder Bundesbürger gleich ist. Ein demokratischer Rechtsanspruch, der jahrhundertelang umstritten war, erkämpft werden mußte. Doch hält diese Garantie, was sie verspricht? Dank unserer fleißigen Medienberichterstattung sahen und hörten wir, wie der Beherrscher der Post und Telekommunikation, ein Herr Zumwinkel, abgeführt wurde, weil er Steuern in Millionenhöhe hinterzogen und in dem Schlupfloch Liechtenstein versteckt hatte.
Ungefähr gleichzeitig wurde eine Kassiererin fristlos entlassen, die an der Kasse einer Selbstbedienungsfiliale einen Euro und dreißig Cent unterschlagen hatte. Die Gerichte wiesen ihre Klage in zwei Instanzen ab. Herrn Zumwinkels Freiheitsstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden, zudem halfen ihm Millionenbeträge aus der Pensionskasse aus seinem erbarmungswürdigen Elend. Mittlerweile lebt er am Gardasee oder in London, in der Nähe von anderen millionenschweren Steuerhinterziehern, die ihre Bewährungsstrafen absitzen und sich an den Früchten ihres asozialen Verhaltens erfreuen.
Ich bezweifle, daß der namenlosen Kassiererin und Herrn Zumwinkel gleiches Recht widerfuhr. Allein schon das ökonomische Ungleichgewicht unserer Gesellschaft steht dem Versprechen der Verfassung im Wege.
Demokratie ist kein fester Besitz. Wir bemerken es gegenwärtig, also in einer Zeit, in der die Ideologie der grenzenlosen Gewinnmaximierung ihren Kollaps erlebt und weltweit Millionen Arbeitsplätze hinwegspült. Von arbeitenden Menschen erwirtschaftetes Kapital verflüchtigt sich zu Nichts. Diejenigen, die vorgestern noch den Staat entmachtet sehen wollten, schreien nun nach staatlicher Hilfe, und dennoch werden weiterhin von Habsucht getriebene Manager mit horrenden Abfindungen gespeist, damit sie ihr Elend auf hohem Niveau auskosten können.
Das alles ist schlimm, aber noch viel schlimmer und folgenreicher ist das Schweigen im Lande. Kurz kocht Empörung hoch und legt sich wieder. Weit lebensnotwendiger für den Erhalt der Demokratie sind und bleiben – um wiederum auf mein Thema zu kommen – mündige Bürger, die jedem Lobbyisten, der den Bundestag belagert, das verfassungswidrige Handwerk legen: mündige Bürger, die endlich begreifen, daß sie laut Verfassung der Souverän des Staates sind, vor allem junge Menschen, die, weil es um ihre Zukunft geht, den Mund aufmachen und jenen Ruf wiederbeleben, der vor zwanzig Jahren mit der fordernden Behauptung »Wir sind das Volk!« ein Zwangssystem hinwegfegte.
Ich spreche zu Ihnen aus Erfahrung. Ich habe mich als junger Mensch immer wieder gefragt und tue es im Grunde bis heute: Wie kam es zum Zerfall der Weimarer Republik? Die Weimarer Republik wurde gleichermaßen von Nazis und Deutschnationalen wie auch von den Kommunisten als bloßes System abgelehnt und bekämpft. Beide christliche Kirchen haben sich nahezu widerstandslos angepaßt. Die Großindustrie war Hitler zu Diensten. Von den demokratischen Parteien waren zum Schluß nur noch die Sozialdemokratische Partei und die Zentrumspartei widerständig. Als Hitlers Ermächtigungsgesetz zur Abstimmung stand, fiel auch die Zentrumspartei um, die Gegenstimmen der Sozialdemokraten reichten nicht aus. Doch gravierender als das allumfassende Versagen ist wohl die Tatsache, daß es in der Weimarer Republik nicht genügend Bürger gegeben hat, die sich schützend vor dieses fragile, von Anfang an gefährdete Gebilde gestellt haben. Diese Einsicht hat mich dazu gebracht, als Schriftsteller immer wieder mein Schreibpult zu verlassen und als Bürger den Mund aufzumachen, das heißt, mündig im wahrsten Sinne des Wortes zu sein.
Nichts Besseres kann ich Ihnen empfehlen. Mit Gegenwind ist zu rechnen. Doch darauf wird es ankommen: auch bei Gegenwind den Mund aufzumachen, gegen den Wind laut »Ja« oder »Nein« zu sagen und dieses »Ja« oder »Nein« zu begründen.

Link zur vollständigen Rede:
Mündig sein!

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